Lemgo, 11. September. Dieser fünfte Saisonpunkt war ein denkwürdiger: Trotz eines Vier-Tore-Rückstands in der Frühphase der zweiten Halbzeit entreißt der TBV Lemgo Lippe dem Favoriten aus Flensburg durch das mitreißende 31:31 (14:16) noch einen verdienten Punkt – dank einer enorm lautstarken Unterstützung von den Rängen und eines über sich hinauswachsenden Niels Versteijnen.
Vor dem Spiel: Ohne die nach wie vor verletzten Bobby Schagen und Emil Buhl Laerke veränderte Florian Kehrmann seine Anfangssieben gegenüber dem Auswärtssieg in Wetzlar auf zwei Positionen: Für Thomas Houtepen begann Tim Suton auf halblinks, im Tor startete Finn Zecher. Mit dieser Entscheidung sollte Kehrmann gleich von Beginn an ein glückliches Händchen haben.
Zum Spiel: Keine zwei Minuten waren gespielt, als Lemgos Nummer 20 sich erstmals auszuzeichnen wusste und Flensburgs Linksaußen Emil Jakobsen unter tosendem Applaus der 3768 Zuschauer erfolgreich den Weg versperrte. Weil dem TBV offensiv allerdings noch die nötige Durchschlagskraft fehlte, legte der Favorit durch ein Golla-Doppelpack vor (4.). Im Fallen gelang Frederik Simak kurz darauf aus der Drehung der Anschluss, ehe abermals Zecher mit einer Fußparade zur Stelle war. Nach der Zeitstrafe gegen Blaz Blagotinsek, der mit Johannes Golla einen physisch bemerkenswerten Innenblock stellte, kamen die Hausherren besser in Fahrt: Einen Gegenstoß, dem bereits die vierte Zecher-Parade vorausgegangen war, vollendete Zehnder nach sieben Minuten zum Ausgleich. Lemgo verteidigte leidenschaftlich, zeigte sich wachsam im Rückzug und verzeichnete den ein oder anderen Ballgewinn.
Nicolai Theilinger und Simak zähmten den in der Anfangsphase häufig gesuchten Johannes Golla nach Kräften und bekamen den deutschen Nationalspieler immer besser in den Griff. Und vorne? Zirkulierten die Lemgoer nun schneller den Ball und rissen Lücken in die Flensburger Deckung. Huteceks Wurf aus dem Rückraum als Resultat dessen markierte die erste Lemgoer Führung (6:5), ehe ein Offensivfoul von Kay Smits den TBV-Express zündete und Zehnder per Gegenstoß auf 7:5 erhöhte – das Publikum war
erstmals aus dem Häuschen.
Auch wenn technische Ungereimtheiten den Favoriten wieder in die Spur brachten, ließ sich Lemgo bis in die Crunchtime des ersten Durchgangs nicht abwimmeln. Durch eine Einzelaktion von Lasse Möller setzten sich die Norddeutschen in der 28. Minute erstmals mit drei Toren ab. Doch es ging mit Rückenwind in die Halbzeitpause: Denn obwohl Zehnder in dieser Phase seinen ersten Siebenmeter verwarf, hielt Zecher kurz darauf bärenstark gegen den heranrauschenden Teitur Einarsson, ehe Simak mit einem Wurf an die Unterkante der Latte auf 14:16 verkürzte und Urh Kastelic Smits‘ Strafwurf parierte –
hier war noch alles drin!
Die ersten Minuten nach dem Seitenwechsel hielt Flensburg die Lipper auf Abstand. Zehnders verwandelter Strafwurf zum 17:20 erwies sich nach zwei Lemgoer Fehlwürfen als wichtiger Mutmacher. Im Gegenzug ließ Flensburg ein weiteres Mal vom Punkt Federn: Diesmal scheiterte Jakobsen an Zecher – und der TBV witterte einmal mehr Morgenluft. Erst traf Zerbe als Kreisläufer, dann traf Jan Brosch nach starkem Zuspiel von Suton zum 19:20.
In Minute 42 war es dann so weit: Nachdem Flensburgs Rechtsaußen Johan Hansen nur das Gebälk getroffen hatte, brach ein in dieser Phase kaum zu bändigender Niels Versteijnen mit aller Entschlossenheit durch die Lücke zum 22:22. Kurz zuvor hatte der Niederländer sehenswert per Dreher den erneuten Anschluss hergestellt.
Die Phoenix Contact-Arena drohte überzukochen, Flensburg agierte offensiv zunehmend schludrig, die erste Führung im zweiten Durchgang lag in der Luft – und die war gleich mehrmals möglich: Eine Zecher-Parade läutete den nächsten Gegenstoß ein. Doch erst scheiterte Brosch nach Simaks Stecker, ehe Zerbe den Abpraller nur an die Unterkante der Latte schmiss. Im 7:6 gelang durch Hutecek der erneute Ausgleich.
In dieser brenzligen Phase ließen die Gäste immer wieder ihre individuelle Klasse aufblitzen: Mit einer starken Wurffinte verschaffte Simon Pytlick seinem Team zunächst wieder etwas Luft (24:26), doch der eingewechselte Kastelic hielt Lemgo mit einer starken Hüftparade gegen Smits im Spiel. Im Gegenzug traf Versteijnen zum erneuten Ausgleich (26:26), ehe sich in Überzahl – Kay Smits hatte nach dem letzten Pass noch aufs Tor geworfen – die Riesenchance zur Führung bot: Versteijnen stach zu und brachte den TBV nach 53 Minuten mit 27:26 erstmals in Hälfte zwei in Front. Das kleine Stimmungstief durch die Rote Karte gegen Simak dauerte nur Sekunden. Wieder hallten Jubelschreie durch die Halle, als Kastelic mit seiner rechten Pranke den Wurf von Pytlick noch übers Tor lenkte.
Bereits zweieinhalb Minuten vor dem Ende hielt es die Zuschauer nicht mehr auf den Sitzschalen: Beide Teams legten eine hohe Schlagzahl an den Tag, selbst in Unterzahl drückte Hutecek den Ball mit dem letzten Pass noch über die Linie (29:28). Als klar war, dass der TBV das Spiel in Unterzahl beenden wird, fand Huteceks Steckpass Leos Petrovsky am Kreis, der 30 Sekunden vor Schluss sein zweites Saisontor erzielte zur 31:30-Führung. Doch Lukas Jorgensen bewies Nerven wie Drahtseile – und sorgte sieben Sekunden vor Ende für den Endstand. Mit einem letzten Wurf ans Außennetz endete eine spektakuläre Partie, die mit einem hochverdienten Punktgewinn für die Lipper einen krönenden Abschluss fand.
Die Stimme zum Spiel von Florian Kehrmann: „Wir haben heute wieder ein sehr intensives Bundesligaspiel erlebt. Mannschaften wie Flensburg, die um die Meisterschaft mitspielen, müssen sich bei jeder Mannschaft auswärts durchbeißen. Das ist schwer, vor allem dann, wenn man vorher noch Highlight-Spiele gegen Magdeburg und Kiel hatte. Flensburg dann hier heute zu überraschen, war schwer genug, schließlich ist uns das die letzten zwei Jahre schon gelungen. Als wir dann in der zweiten Halbzeit mit minus vier zurücklagen, kam die Halle und dann passierten entscheidende Aktionen, die man in dieser Phase braucht und die uns zurück ins Spiel gebracht haben. Hinten raus ist es ein ganzes enges Ding. Leider haben wir es nicht geschafft, den letzten Angriff zu verteidigen. Die fehlende Feinabstimmung beim Gegner haben wir heute für uns nutzen können und mit Euphorie den Punkt geholt. Darauf bin ich sehr stolz – und ich glaube, es war auch sehr unangenehm, hier heute in Lemgo zu spielen. Die Atmosphäre war wirklich sensationell. Es war nicht nur warm in der Halle, sondern richtig heiß.“
TBV: Zecher (8/1 Paraden), Kastelic (3/1 Paraden); Hutecek (5), Theilinger, Zehnder (7/4), Brosch
(3), Simak (2), Tomashevskyi, Carstensen, Suton, Zerbe (2), Versteijnen (10), Houtepen (1),
Runge, Petrovsky (1)
SG Flensburg-Handewitt: Buric (6/1 Paraden), K. Möller (3 Paraden); Pytlick (5), Golla (5),
Einarsson, Mensah (1), Gottfridsson (2), Jorgensen (5), Hansen (1), Horgen, Pedersen, Jakobsen
(6/5), Smits, Blagotinsek, L. Möller (4)