Bielefelder Stadtbahn ist 120 Jahre alt

Straßenbahn 1900: Kalt und zugig konnte es auf dem offenen Führerstand der ersten Straßenbahnen sein.

Eröffnungsfahrt startete am 20. Dezember 1900 –

Bielefeld. Sie hat eine Geschichte voller Höhen und Tiefen hinter sich. In den 1950er und 1960er Jahren wurde ihre Existenz in Frage gestellt, in den 1990er Jahren begann ein neuer Aufschwung. Heute ist sie für Klima und Stadtentwicklung in Bielefeld wichtiger denn je. Die Stadtbahn – Rückgrat des Bielefelder Nahverkehrs – wurde am 20. Dezember 120 Jahre alt. Die Eröffnungsfahrt der Straßenbahn, wie sie damals und noch bis 1991 hieß, fand zwischen den beiden Endpunkten der ersten Linie, Brackwede-Dorf und Rettungshaus – heute Johannesstift – statt. Die Verlängerung bis ins Schildescher Zentrum verzögerte sich wegen Kanalbauarbeiten. Die gesamte 9,2 Kilometer lange Strecke quer durch die Stadt konnte am 22. Mai 1901 erstmals befahren werden. Mit 16 Triebwagen, ausgestattet mit jeweils zwei Motoren zu 15 Pferdestärken, und elf Beiwagen begann das elektro-mobile Zeitalter in Bielefeld. Vorausgegangen war eine für heutige Verhältnisse rasante Planungs-, Genehmigungs- und Bauphase. Erstmals verhandelte der Bielefelder Magistrat 1895 über den Bau eines Elektrizitätswerks und einer Straßenbahn, die dem Kraftwerk Strom abnehmen sollte. Am 16. Juli tagte in Bielefeld das erste Mal ein „Städtischer Beleuchtungs- und Verkehrsausschuß“. Und schon zehn Tage später beschloss der Magistrat: „Die Anlage eines Elektrizitätswerkes und einer elektrischen Straßenbahn von Brackwede, durch Bielefeld, nach Schildesche soll als städtisches Unternehmen auf Kosten der Stadt ausgeführt und betrieben werden.“ Das war keine Selbstverständlichkeit, wurden zu der Zeit solche Projekte doch oft von privaten Unternehmen vorangetrieben. Ab 1899 entstanden an der Schildescher Straße neben dem neuen Kraftwerk die Wagenhallen und Werkstätten für die Bahn. In nur acht Monaten baute man im Jahr 1900 die Gleise und die Fahrleitungen.

Ein Weihnachtsgeschenk für die Bielefelder

Den Bielefelderinnen und Bielefeldern war die „Elektrische“ ein willkommenes Weihnachtsgeschenk. Sie nahmen das neu e Verkehrsmittel schnell an, veranstalteten zur Feier der Eröffnung sogar Konzerte. Der Magistrat hatte mit seiner zukunftsweisen-den Entscheidung richtiggelegen: Obwohl die Straßenbahn im inneren Stadtkern nicht schneller als zwölf Kilometer in der Stunde fahren durfte, stieg die Zahl der Fahrgäste rasch. Schon im ersten Jahr fuhren 2,1 Millionen Fahrgäste mit – und dass trotz der für Normalverdiener hohen Fahrpreise zwischen zehn und 20 Pfennig je Fahrt. Der anfängliche 30-Minuten-Takt musste bereits im ersten Betriebsjahr verkürzt werden. Schon im Juli 1902 ging eine zweite Straßenbahnlinie zwischen dem Bahnhof und der Göbenstraße (heute August-Bebel- Straße) in Betrieb, die im August bis nach Sieker verlängert wurde. Gern genutzt wurde diese Linie auch für Ausflüge in die Umgebung. Die „Sieker Schweiz“ und der Rütli waren nicht weit entfernt. Der erste Weltkrieg stellte auch für die Bielefelder Straßenbahn eine tiefe Zäsur dar. Statt das Netz wie geplant weiter auszubauen, wurde Schienen- und Fahrleitungsmaterial für Kriegszwecke eingeschmolzen. Erst 1928 ging eine dritte – und für Jahrzehnte die letzte neue – Linie in Betrieb. Sie führte von der Oststraße zur Langen Straße. Im gleichen Jahr folgte die Verlängerung der Linie 2 vom Hauptbahnhof zum Walkenweg. Bis zum zweiten Weltkrieg war zudem der 1909 begonnene zweigleisige Ausbau des Streckennetzes weitgehend abgeschlossen.

Schwere Schäden im zweiten Weltkrieg

Mitarbeiter 1928: Stolz präsentieren sich die Mitarbeiter vor ihrem Arbeitsgerät.

Wie der erste Weltkrieg war auch der zweite Weltkrieg eine große Belastungsprobe für die Straßenbahn. Die Fahrgastzahlen stiegen, aber immer mehr Mitarbeiter wurden zum Kriegs-dienst eingezogen. Hilfskräfte – darunter so genannte Kriegsmaiden – und auch Fremdarbeiter kamen zum Einsatz. Außer-dem waren keine neuen Fahrzeuge mehr zu beschaffen. 1944 wurden Anlagen und Fahrzeuge der Straßenbahn bei Bombenangriffen schwer beschädigt. Von März bis Juni 1945 kam der Straßenbahnbetrieb ganz zum Erliegen. Danach war zunächst nur ein eingeschränkter und improvisierter Betrieb möglich, da es noch bis 1950 dauerte, bis alle Kriegsschäden beseitigt waren. Dennoch zählte man bereits 1947 wieder 33 Millionen Fahr-gäste. Denn die Straßenbahn war damals das Verkehrsmittel. Das Auto spielte so gut wie keine Rolle. Dies änderte sich bald. In den 1950er Jahren gab es in Bielefeld, wie in der ganzen Bundesrepublik, die erste Motorisierungs-welle. Dies bedeutete eine ernste Gefahr für die Straßenbahn, denn gefragt war nun die „autogerechte Stadtplanung“. Doch wieder – wie schon Ende des 19. Jahrhunderts – bewiesen Bielefelds Kommunalpolitiker Weitsicht. Während viele deutsche Städte in den 1950er und 1960er Jahren ihre Straßenbahnen stilllegten, hielten die Bielefelder an ihrer Bahn fest und modernisierten sie sogar.
Im Zusammenhang mit dem Umbau des Jahnplatzes Mitte der 1950er Jahre nahm man die Straßenbahn aus der Bahnhof-straße heraus und führte alle drei Linien gebündelt über die Her-forder Straße zum Berliner Platz (heute Willy-Brandt-Platz). Hinzu kam eine systematische Erneuerung der Gleise in der Innenstadt, oft auf völlig neuen Trassen. Und das Netz wurde grö-ßer: Die Linie 2 wird 1957 von der Langen Straße bis zur Voltmannstraße verlängert. In den 1960er Jahren folgt die Linie 3, die einerseits von der Oststraße zur Otto-Brenner-Straße, ande-rerseits vom Walkenweg bis zur Karolinenstraße ausgebaut wird.

Die Straßenbahn soll dem Auto Platz machen

Dennoch lässt sich nicht verhindern, dass die zunehmende Motorisierung der Bielefelder die Fahrgastzahlen sinken lässt. So fuhren 1965 nur noch 22 Millionen Fahrgäste mit der Straßen-bahn. Kein Grund zum Aufgeben: Der Bielefelder Stadtrat beschloss aufgrund eines 1965 vorgelegten umfassenden Verkehrsgutachtens, an der Straßenbahn festzuhalten. Allerdings sollte sie als Unterflurstraßenbahn teilweise unter der Erde verschwinden, damit die Autos auf den Straßen genug Platz hätten. 1971 ging der erste 500 Meter kurze Tunnel unter der Herforder Straße mit der unterirdischen Haltestelle Beckhausstraße in Be-trieb. Außerdem sollte die Straßen- zur Stadtbahn werden, mit Strecken auf eigenem Gleiskörper und einem Tunnel unter der City.In den folgenden zwei Jahrzehnten erlebte die Straßenbahn in Vorbereitung auf den Stadtbahnbetrieb viele Veränderungen. Am sichtbarsten und Grund für jahrelange Bauarbeiten in der Innenstadt: der 4.450 Meter lange Stadtbahntunnel mit seinen – inklusive der Beckhausstraße – fünf unterirdischen Haltestellen. Zudem wurde die Bahn bis Baumheide und später Milse, zur Haltestelle An der Reegt sowie nach Babenhausen-Süd verlängert. Auch verlegte man an Artur-Ladebeck-Straße, Brackweder und Herforder Straße die Strecken auf eigene Gleiskörper und baute die ersten Hochbahnsteige.

150.000 Bielefelder feiern die Stadtbahn

Stadtbahneröffnung 1991: 150.000 Bielefelder feierten am 28. April 1991 die Eröffnung der Stadtbahn.

Ziel all dieser Maßnahmen: Die neue Stadtbahn sollte schneller, zuverlässiger und bequemer als die alte Straßenbahn sein. Neue Fahrgäste wollten die Verkehrsbetriebe so gewinnen und – die Zeiten hatten sich geändert – damit auch einen Beitrag zum Umweltschutz und zur Stadtentwicklung leisten. Der Plan ging auf: Am 28. April 1991 feierten 150.000 Bielefelderinnen und Bielefelder „ihre“ Stadtbahn. Und die Trendwende gelang: Von dem Tag an bis ins Vor-Corona-Jahr 2019 stiegen 30 Jahre lang die Fahrgastzahlen an. Verzeichneten die Verkehrsbetriebe 1990 nur noch – Bus und Straßenbahn zusammengenommen – gut 23 Millionen Fahrgäste, waren es zuletzt rund 60 Millionen. Dieser Umschwung ermutigte Stadt und Verkehrsbetriebe, das Stadtbahnnetz weiter auszubauen – was wiederum neue Fahr-gäste gewann. 1996 erreichte die Linie 3 zunächst die Halte-stelle „Elpke“ und 1997 den Endpunkt „Stieghorst-Zentrum“. 2000 folgte die erste komplett neue Linie seit 1928. Die Linie 4 band die Universität besser an die Innenstadt an, wofür unter anderem der Stadtbahntunnel erweitert wurde und die Tunnelhaltestellen Siegfriedplatz und Rudolf-Oetkerhalle entstanden. 2002 folgte die Verlängerung bis zur heutigen Endstation Lohmannshof.
Danach mussten die Bielefelder lange auf Streckenerweiterungen warten. Planung, Genehmigung und Bau waren bei Weitem nicht mehr in acht Monaten wie Ende des 19. Jahrhunderts zu bewältigen. Es dauerte bis zum Nikolaustag 2015, bis mit der Verlängerung der Linie 2 nach Altenhagen ein neuer Strecken-abschnitt das Netz erweiterte. Gescheitert war ein Jahr zuvor am Widerstand der Bürger der Plan, mit einer neuen Linie 5 Heepen und Sennestadt miteinander zu verbinden. So folgte 2019 nach langer Vorlaufzeit nur noch eine kurze Erweiterung bis zur Hal-testelle Dürkopp Tor 6.

Das Stadtbahnnetz soll wachsen

In dieser Form soll das Stadtbahnnetz aber nicht bleiben. Stadt und moBiel arbeiten an einem weiteren Ausbau. Denn die Stadt-bahn ist nicht nur das Rückgrat des Nahverkehrs in Bielefeld. Vor allem die Bedrohung durch den Klimawandel macht es wich-tiger denn je, saubere Mobilität zu fördern – wozu die mit hundert Prozent Ökostrom fahrende Stadtbahn bestens geeignet ist. Auch ist ihr Platzbedarf pro Fahrgast viel geringer als beim Auto, was neue Perspektiven für die Gestaltung des städtischen Raums bietet. 2021 sollen die Bauarbeiten für die Verlängerung der Linie 4 im Bielefelder Westen starten. In Planung sind zudem die Mobilitätslinie nach Sennestadt und die Anbindung Hillegossens an das Stadtbahnnetz. Bei diesen Vorhaben lässt sich noch nicht sagen, wann gebaut werden kann. Aber gewiss ist heute wie am 20. Dezember 1900: Bielefeld braucht seine Stadtbahn. Dieses schnelle, sichere und klimafreundliche Verkehrsmittel ist aus Bielefeld nicht mehr weg zu denken.

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